Foto: Peter Gerstbach

Design Thinking ist eine Innovationsmethode aus den USA, die dabei hilft, Produkte oder Projekte am Menschen ausrichten und dafür die Kundenperspektive einzunehmen. OPTIC+VISION fand im Interview mit Innovationsexpertin Ingrid Gerstbach heraus, was Design Thinking bedeutet, warum es so wichtig ist und wie Unternehmen es nutzen können.

OPTIC+VISION: Wie sind Sie zu einer führenden Expertin im Design Thinking geworden? Erzählen Sie uns ein bisschen von Ihrer beruflichen Entwicklungsreise.

Ingrid Gerstbach: Ich habe mich schon immer dafür interessiert, warum sich Menschen verhalten, wie sie es eben tun, und welche Muster es in der Welt gibt. So wollte ich als Kind immer Detektivin werden. Ich wollte verstehen, warum die Menschen um mich herum auf bestimmte Weise handeln, was ihre Geheimnisse sind, wie sie denken. Nach meinem Studium habe ich zunächst in klassischen Berufen im Marketing und Projektmanagement gearbeitet. Im Laufe der Zeit ist mir bewusst geworden, dass viele Projekte und Produktentwicklungen scheitern, weil sie am Menschen vorbei entwickelt werden. Die wichtigsten Personen, nämlich die, die später die Lösung nutzen sollen, wurden einfach nicht gefragt, was sie eigentlich wollen und brauchen. Ich habe mich dann intensiv mit dem Thema Empathie beschäftigt. Irgendwann bin ich in Amerika auf das Thema Design Thinking gestoßen und fand dort meine Antwort auf viele Fragen. Dieser Ansatz hat mich sofort begeistert und gefesselt, sodass ich alles über das Thema aufgesaugt habe.

Design Thinking klingt nach einem großen, hippen Begriff. Wie kann man diese Methoden in einem kleinen Unternehmen anwenden?

Für mich persönlich ist Design Thinking viel mehr als eine Methodik oder ein Prozess. Es ist ein Mindset, in dessen Mittelpunkt der Mensch steht. Es geht dabei weniger um die einzelnen Methoden oder Schritte, sondern vielmehr darum, das Verhalten von Menschen zu verstehen und ihre Bedürfnisse zu hinterfragen. Dieses Denken ist unabhängig von einer Unternehmensgröße oder vom Umfeld. Im Grunde kann und sollte das jedes Unternehmen in seinen Ablauf integrieren: Sich in den Kunden hineinzuversetzen, um aus dessen Perspektive die Unternehmenswelt und Marke zu betrachten und Lösungen zu finden, die funktionieren, weil sie gebraucht werden.

Brauche ich professionelle Anleitung, um Design Thinking für mein Unternehmen nutzen zu können?

Im Design Thinking geht es nicht darum, die einzelnen Steps nach Lehrbuch anzuwenden. Es geht darum, das Team, das Sie als Design-Thinking-Berater begleiten, gut einzuschätzen und die Beteiligten so sicher an ihr Ziel zu begleiten. Oft können Methoden nicht immer 1:1 angewendet werden, sodass es auch mal zu Anpassungen kommt, wenn zum Beispiel mehr extrovertierte als introvertierte Teammitglieder dabei sind oder wenn das Team einen kreativeren Ansatz als gedacht braucht, um neue Ideen zu entwickeln. Das alles stellt sich meistens erst im Laufe des Prozesses heraus und ist nichts, was sich wirklich gut planen lässt. Ein Design-Thinking-Berater, der viel Erfahrung hat, spürt, was die Menschen im Team gerade benötigen.

Was sind die größten Innovationsblockaden und Herausforderungen, die Sie heute in traditionellen Retailbranchen wie z.B. der Augenoptik beobachten?

Eine der größten Herausforderungen beim Entwickeln innovativer Lösungen ist, dass Unternehmen – vor allem aus der Retailbranche – denken, dass sie den Kunden bereits so gut kennen, dass sie diesen nicht befragen oder beobachten müssen. Das kann sich aber schnell fatal auswirken, denn auch die Kunden entwickeln sich weiter. So sind die – nicht selten unbewussten – Bedürfnisse, die die Menschen vor einigen Jahren hatten, nicht mehr dieselben wie heute. Wenn Unternehmen den Schritt versäumen und nicht mehr mit dem Kunden direkt kommunizieren, arbeiten sie schnell an ihm vorbei und entwickeln Lösungen, die der Kunde nicht braucht oder nicht will.

Wie sollte ein kleiner, inhabergeführter Laden speziell mit dem Megatrend Digitalisierung umgehen?

Gerade kleine Läden trauen sich häufig nicht, die altbekannten Wege zu verlassen und neue Pfade zu beschreiten. Sie haben Angst davor, dass sie nicht mit den großen Unternehmen mithalten können. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall: Gerade kleinere Unternehmen haben die Möglichkeit, flexibel zu reagieren und Lösungen zu finden, die sich schnell testen lassen. Dazu müssen sie ein wenig Mut beweisen, ins Tun kommen und auch mal Neues ausprobieren. Es geht darum, den Perfektionismus loszulassen und Ideen zu entwickeln, die große Unternehmen gar nicht denken können – unter anderem, weil die interne Bürokratie sie daran hindert. Diese Chance gilt es zu nutzen.

Eine Ihrer Thesen lautet: Für jedes Problem gibt es mindestens eine funktionierende Lösung. Wie kommt es zu dieser Aussage?

Menschen interagieren anhand ihrer persönlichen Sicht auf die Welt. Es gibt also auch immer mehr als eine Erfahrung oder eine Perspektive. Das Einzige, das uns Grenzen setzt, sitzt zwischen unseren Ohren: Es ist die Angst, die den Menschen ständig einredet, dass etwas nicht möglich ist oder dass jemand sie auslachen könnte.

Sie schreiben auch: Jeder Mensch trägt alles Wissen, was er braucht, in sich, selbst wenn es momentan nicht abrufbar scheint. Wie komme ich an diesen unbewussten Wissensschatz?

Sobald wir auf die Welt kommen, beginnen wir Erfahrungen zu sammeln. Wir lernen mit jedem Schritt, mit jedem Atemzug, den wir machen und im Grunde ist dieses Lernen nie zu Ende. Es geht darum, bewusst die Augen offen zu halten, neugierig zu sein, die Welt erkunden zu wollen und nicht aufzuhören zu fragen. Durch regelmäßiges Reflektieren mit anderen und das Hinterfragen des eigenen Denkens wird es möglich, diesen Wissensschatz zu heben.

Wie erkennt man Einschränkungen in den eigenen Gedanken und wie durchbricht man sie?

Einschränkungen entstehen dann, wenn wir die Dinge nicht mehr hinterfragen und alles als selbstverständlich wahrnehmen. Indem wir neugierig bleiben und uns mit Dingen beschäftigen, die außerhalb der eigenen Komfortzone liegen, können wir uns neue Perspektiven eröffnen, die zeigen, wie vielfältig die Welt ist.

Wie wichtig ist bei einem Innovationsprozess mit Design Thinking das Verhältnis zwischen Chef und Team?

Im Design Thinking arbeiten wir nicht mit Rollen wie dem Marketingleiter, dem Lehrling, der Produktentwicklerin oder der Chefin, sondern mit dem gesamten Erfahrungsschatz, den Menschen gemacht haben. Es geht darum, den gesamten Wissensschatz anzuzapfen und zu nutzen. Um diesen zugänglich zu machen, sind Hierarchien eher hinderlich. In einem Design-Thinking-Workshop werden bewusst diese Rollen abgelegt und darauf aufmerksam gemacht, dass wir mit dem ganzen Menschen, mit all seinen Erfahrungen, arbeiten. Nicht mit der Position im Team. Keiner ist mehr wert als ein anderer.

Warum lohnt es sich, nicht mehr ans „Scheitern“, sondern ans „Lernen“ zu denken?

Scheitern ist bei den meisten Menschen negativ verknüpft und löst unangenehme Assoziationen aus. Dabei ist es nichts anderes als ein Lernprozess: Dadurch, dass eine Lösung nicht funktioniert wie erhofft, entsteht die Chance, neue Wege auszuprobieren und zu erkennen, warum etwas nicht funktioniert. Lernen ist daher die logische Antwort auf ein Scheitern – und unbedingt notwendig, um Probleme und Herausforderungen zu lösen.

Ingrid Gerstbach ist Innovationsexpertin und gilt als die deutschsprachige Koryphäe der aus den USA stammenden Innovationsmethode Design Thinking. Die studierte Betriebswirtin, Wirtschaftspsychologin und Erwachsenenbildnerin berät internationale Unternehmen und Universitäten und schreibt Kolumnen und Bücher und Kolumnen. Ihr Buch „77 Tools für Design Thinker“ ist in komplett überarbeiteter Ausgabe bei GABAL erschienen. Ingrid Gerstbach lebt und arbeitet mit ihrem Mann Peter in Klosterneuburg bei Wien.

Das Interview führte Rosemarie Frühauf.