Wer würde nicht gerne wissen, was die Zukunft mit sich bringt? Mit der Zukunft beschäftigt sich Sven Gábor Jánszky, der innovativsten Zukunftsforscher Europas, in seiner täglichen Arbeit. OPTIC+VISION hat mit ihm gesprochen und herausgefunden, warum jedes Unternehmen Zukunftsstrategien braucht. Sven Gábor Jánszky verriet außerdem, inwiefern sich das Einkaufsverhalten verändert und wie Digitalisierung den Handel beeinflusst.
OPTIC+VISION: Was macht ein Zukunftsforscher?
Sven Gábor Jánszky: Ein Zukunftsforscher benutzt wissenschaftliche Methoden, um Prognosen über die nächsten zehn Jahre zu erstellen. Das Ziel eines Zukunftsforschers ist es, Zukunftsbilder zu erstellen: Wie sieht ein bestimmter Bereich der Welt, zum Beispiel eine Branche oder ein Unternehmen, in zehn Jahren aus? Auch ein Zukunftsforscher kann natürlich keine Garantien abgeben, denn Zukunft ist Zukunft, aber er kann Wahrscheinlichkeiten analysieren und Entwicklungen ableiten.
Warum brauchen Unternehmen Zukunftsprognosen?
Dank Zukunftsprognosen kann man heute bessere Entscheidungen treffen. Wir Zukunftsforscher beginnen mit dem Zukunftsbild: Wie sieht die Branche in zehn Jahren aus? Wie ist die ideale Positionierung? Was ist der bestmögliche Status, den das Unternehmen in zehn Jahren in diesem veränderten Umfeld haben kann? Im nächsten Schritt fragen wir uns, welche Strategie passend ist. Dafür erfolgt das Backcasting, ein Planungsinstrument, bei dem man ausgehend vom Ziel überlegt, mit welchen strategischen Maßnahmen der Idealzustand erreicht werden kann. Dadurch entsteht eine andere Zukunftsstrategie, als wenn man nur die aktuelle Ausgangslange berücksichtigt. Deshalb braucht jedes Unternehmen Zukunftsbilder als Basis für Zukunftsstrategien.
Geht die Arbeit eines Zukunftsforschers nach der Strategie noch weiter?
Zukunftsforscher werden nicht nur mit dem Erstellen eines Zukunftsbilds und einer Zukunftsstrategie beauftragt, sondern formulieren konkrete Handlungsempfehlungen für das Unternehmen. Diese können zum Beispiel enthalten, eine bestimmte Technologie zu benutzen oder neue Geschäftsmodelle in Start-up-Geschwindigkeit aufzubauen. Will das Unternehmen diese Empfehlungen umsetzen, bietet unser Institut einen Company Builder, das Tochterunternehmen 2b AHEAD Ventures, der basierend auf den Zukunftsbildern kleine Start-Ups mit den Unternehmen gründet und neue Geschäftsmodelle entwickelt. Vor 20 Jahren waren Zukunftsforscher noch sehr theoretisch. Heute hat die Zukunftsforschung zwar noch den Kern in der Analyse, ist aber sehr praktisch geworden. Wir wollen, dass die Unternehmen in der Lage sind, unsere Ergebnisse direkt anzuwenden.
Wie gehen Sie vor, um ein Zukunftsbild zu entwickeln? Hat die Zukunftsforschung viel mit Mathematik zu tun?
Nein. Zukunftsforschung ist nicht mathematisch, denn man kann die Zukunft natürlich nicht messen oder zählen. Einige versuchen das mit einem quantitativen Ansatz trotzdem, indem sie typische Marktforschung betreiben und viele Menschen zu einem Thema befragen. Oft wissen die befragten Leute aber selbst nicht, wie die Zukunft aussehen wird, sodass der Wert dieser Aussagen fragwürdig ist. Die wissenschaftlichen Methoden der Zukunftsforschung sind keine quantitativen, sondern ausschließlich qualitative Methoden. Zu Beginn einer Studie identifizieren wir die Personen in der Welt, die den größten Einfluss auf die Entwicklung dieser Branche haben. Das sind oft Menschen in Chefpositionen aus dem Strategie-, Innovations- oder Technologiebereich von markt- und trendtreibenden Unternehmen. Finden wir diese wichtigen Akteure und interviewen sie, dann haben wir qualitative Daten, die als Grundlage für unsere Zukunftsbilder und unsere Prognosen dienen.
Inwiefern wird sich das Einkaufsverhalten zukünftig verändern?
Wir befinden uns schon mitten in der Veränderung. Grundlage unserer Studien ist die Kundenpyramide der Zukunft. Sie ist keine Pyramide mehr, sondern eher eine Sanduhr, die oben breit ist, eine schmale Taille hat und unten am breitesten ist. Diese Form entsteht dadurch, dass Standard-Angebote verschwinden. Alle Unternehmen, die Standard-Produkte zu Standard-Preisen für Standard-Kunden anbieten, bekommen Probleme. Deswegen mussten schon vor Corona viele Kaufhäuser schließen.
Wenn es einen Standard-Bereich durch den Veränderungsdruck im Markt nicht mehr geben wird, welche Auswirkungen hat das auf Unternehmen?
Unternehmen entscheiden sich zukünftig entweder für den unteren oder den oberen Bereich der Kundenpyramide. Die beiden Segmente funktionieren nach komplett unterschiedlichen Strategien. Im unteren Bereich, dem Massensegment, geht es um das Preis-Leistungs-Verhältnis, d.h. der Anbieter muss das geforderte Qualitätsniveau des Kunden erkennen und gleichzeitig dafür den besten Preis anbieten. Der obere Bereich der Pyramide, der Premiumbereich, heißt Identitätsmanagement. Dieser ist nicht durch den höchsten Preis und die höchste Qualität der Produkte gekennzeichnet. Im oberen Segment geht es ausschließlich darum, dass jeder Mensch bestimmte Produkte und Marken benutzt, um seine Identität auszudrücken: Wir werden also eine Trennung in zwei Gruppen erleben: in den rationalen kostengünstigen Massenbereich und in den preisintensiven kleineren Premiumbereich.
Wie beeinflusst die Digitalisierung den Handel?
Die Digitalisierung ist die Basistechnologie des Massensegmentes. Reden Zukunftsforscher über Digitalisierung, meinen sie künstliche Intelligenz sowie das Generieren und die Analyse von (Echtzeit-)Daten. Wer diese Daten durch Sensoren versteht und sie in Kaufempfehlungen umsetzt, macht im Einzelhandel das Geschäft. Google, Amazon und Co. sind damit dem deutschen Einzelhandel ungefähr acht Jahre voraus. Die Beeinflussung des Einzelhandels durch die Digitalisierung ist immens. Jeder, der in diesem Datengeschäft nicht mitspielt, hat im Massenbereich keinen Erfolg mehr. Gerade im Einzelhandel ist der Massenbereich eng verbunden mit Lieferdiensten, denn Kunden lassen sich die Produkte nach Hause liefern. Wenn der deutsche Einzelhandel nicht mit der Digitalisierung mithalten kann, dann hat er nur eine einzige Chance: In das Premium-Segment zu wechseln und Identitätsmanagement zu betreiben.
Wie sollte sich ein einzelnes mittelständiges Unternehmen für die Zukunft rüsten?
Das Unternehmen muss sich als erstes fragen, ob es die Chance hat, sich an ein großes IT-System wie beispielsweise Amazon anzuschließen, um Echtzeitdaten zu erhalten und künstliche Intelligenz zu nutzen. Ist eine Nische klein genug, dass die großen weltweiten Akteure sie noch nicht entdeckt haben, kann ein Unternehmen gemeinsam mit einem Verbund oder Netzwerk ein eigenes System aufbauen. Die zweite Möglichkeit ist der Weg in den Premiumbereich: Ein mittelständisches Unternehmen kann eine oder mehrere Identitäten annehmen. Bisher haben die wenigsten Unternehmen diese Strategie gewählt. Porsche ist zum Beispiel ein Identitätsunternehmen. Durch das Fahren eines Porsches zeigen Käufer, dass sie dynamisch und reich sind. Gehen Menschen in den Bio-Markt, wollen sie damit ihren gesunden Lebensstil und ihr Umweltbewusstsein ausdrücken. Es gibt auf jeder Preisstufe Identitätsmanagementangebote, die der Mittelständler wahrnehmen muss, wenn er sich nicht an digitale Systeme anschließen kann.
Welche Veränderungen des Einkaufsverhaltens sind durch die COVID-Krise zu beobachten?
Der klassische stationäre Handel wurde noch stärker unter Druck gesetzt, als er vorher schon war, weil man in Lockdown-Zeiten nicht mehr einkaufen gehen konnte. Viele Unternehmen haben versucht, möglichst schnell ihre Produkte online anzubieten. Diese Entwicklung wäre auch ohne Corona eingetreten, die Krise hat die Digitalisierung nur beschleunigt. Viele Unternehmen wurden durch Corona-Hilfen unterstützt. Wenn diese Hilfen auslaufen, wird sich zeigen, wer die Corona-Krise nutzen konnte, um sich an die Entwicklungen anzupassen und wer es nicht geschafft hat.
Das Interview führte Janike Dombrowsky.