Alle reden über Plastikmüll im Meer – er packt das Problem an: Francois van den Abeele gründete im Jahr 2016 das Eyewear-Label Sea2see, das hochwertige Brillen komplett aus recyceltem Meeresplastik herstellt. Im Exklusiv-Interview mit OPTIC+VISION erzählt der Ex-Journalist, wie es kam, dass er heute mit seiner Firma gleich mehrere Projekte mit Umwelt- und sozialem Engagement betreibt. Denn die Erfolgsstory hat gerade erst angefangen – und er hat große Pläne.
OPTIC+VISION: Heute sind hochwertige und superleichte Brillen Made in Italy das Produkt von Sea2see. Am Anfang stand jedoch nicht die Brille, sondern das Müllproblem der Weltmeere.
Francois van den Abeele: Richtig. Am Anfang stand für mich die Frage: Was kann man mit dem Plastikmüll aus dem Meer machen – denn bekanntlich gibt es ihn in rauen Mengen. Meine Philosophie ist, dass Nachhaltigkeit bezahlbar sein muss. Denn nur so kannst du in der Masse etwas bewegen. Bezahlbare, aber qualitativ hochwertige Recycling-Produkte waren meine Idee.
Ich wollte eigentlich zuerst Surfshorts produzieren. Doch schon bald merkte ich, wie kompliziert das war. Bei einem Bekleidungsstück braucht man noch mehr Schritte, bis aus dem recycelten Plastik ein Garn, ein Stoff und ein fertiges Produkt wird. Es sollte unbedingt ein emotionales Lifestyle-Produkt werden, dass uns nahe ist – und mit dem man ein Statement setzen kann. Eine Billigsonnenbrille aus Asien war dann die Erleuchtung für mich: Aus Plastik – und mitten in unserem Gesicht! Heute können wir sagen: Mit jeder gekauften Sea2see-Brille trägst du dazu bei, dass 5 Kilo Plastikmüll aus dem Meer geholt und recycelt werden.
Wie haben Sie angefangen?
Unsere Story hat zwei Aspekte: Umweltschutz und Eyewear. In punkto Müllsammlung konnten wir nicht einfach loslegen und einen Container für alte Fischernetze am Hafen aufstellen. Das muss alles korrekt und bürokratisch legitimiert ablaufen. Zudem mussten wir das Plastik auf seine Qualität und Verrottungsdauer hin analysieren. Um mehr darüber zu erfahren reiste ich zu Konferenzen über Ozean-Plastik. Zuerst arbeiteten wir dann mit einer Müllsammel-Firma zusammen und stellten Container in Hafenstädten auf. Wir machten Verträge mit den Hafenbetreibern und Fischern: Sie sortieren den Müll in 27 spanischen Häfen und zwölf französischen Häfen vor. In Europa ist es verboten, Müll ins Meer zu kippen– also läuft das wie von selbst.
Wie entstanden die Brillen?
Vom Eyewear-Business hatte ich keine Ahnung. Also ging ich auf die MIDO – und erlitt dort den Realitäts-Schock: 3000 Aussteller und eine Handvoll Branchen-Haie, die alles beherrschen. Wenn man ein kleines Start-up mit einer genialen Idee ist, dann wird man von den Riesen kopiert, die viel mehr Geld für das Marketing haben. „Willst du wirklich so bekloppt sein, noch eine Brillenmarke rauszubringen?“, dachte ich damals. Aber es gab gute Gründe für Sea2see. Denn auf der MIDO 2016 war Recycling noch kein Thema.
Warum nicht?
Auch wenn in Deutschland, Holland und Belgien seit Jahrzehnten Müll getrennt wird, existiert immer noch die Anschauung, dass ein Produkt aus Recycling-Material eine schlechtere Qualität hat, als ein herkömmlich produziertes. Nein, das hat es nicht! Unsere Brillen werden in einer italienischen Manufaktur gefertigt, die für die renommiertesten Marken der Welt arbeitet und als Nr.1 des Spritzguss-Verfahrens gilt. Dieser Familienbetrieb blickt auf 40 Jahre Brillen-Expertise zurück und ich bin so froh, dass ich sie gefunden habe. Sie waren von meiner Idee begeistert und meinten: „Lass´ es uns einfach versuchen“. Ich bin dann mit 20 Kilo recyceltem Rohplastik zu ihnen geflogen und wir haben enorm viele Tests gemacht um das richtige Polymer zu finden. Die ganzen aufwendigen Materialtests machten sie kostenlos, weil sie unsere Idee so gut fanden. Sie haben mit viel Liebe die Designs und Formen entwickelt für unsere mittlerweile 185 Modelle starke Kollektion. Ihr Sinn für Verantwortungsbewusstsein, Details und ihre professionelle Hingabe ist wirklich einzigartig. In gewisser Hinsicht ist Sea2see auch ihr Baby.
Wie sah die erste Kollektion aus?
Zu Beginn hatten wir kein Geld, um das Projekt zu starten. Also sammelte ich per Crowdfunding, um die erste kleine Kollektion mit drei Sonnenbrillen in je sechs verschiedenen Farben launchen zu können. Ein Distributeur in Belgien kaufte sie. Ein Mensch in Holland. Ein Optiker in Frankreich … Mittlerweile haben wir über 3.000 Optiker in aller Welt. Und natürlich konnten wir uns seitdem in allen Bereichen verbessern. Das war ein interessantes Wachstum auf der optischen Seite.
Wie sieht die Umwelt-Arbeit Ihres Projektes aus?
Seit rund einem Jahr starten wir in Afrika voll durch. Wir haben die gesamte ghanaische Küste abgeklappert und den dortigen Fischern gesagt, dass sie ihre alten Seile und Netze nicht einfach in die Landschaft werfen sollen, weil das schlimm für die Umwelt ist. Wir sagten: „Sammelt den herumliegenden Müll auf, wir kaufen ihn euch ab.“ Indem wir dem Müll Wert geben, haben sie Interesse, ihn zu sammeln. Denn in Afrika, wo Menschen von 5 Dollar pro Tag leben müssen, sind die Prioritäten einfach anders. Man schuftet für die eigene Ernährung und die Schulbildung der Kinder. Dort gibt es keine Infrastruktur zum Müll sammeln und der Gedanke an Recycling ist geradezu utopisch.
Umso ermutigender ist es, dass wir dort seit einem Jahr tausende Waggons voll Müll gesammelt haben. Mit unseren sechs Sammelpunkten in Ghana und werden wir dort bis Jahresende 15.000 Kilo Plastikmüll pro Monat sammeln! Diese Aktion hat also enorme Auswirkung auf die Umwelt und die Menschen vor Ort.
Wie geht es weiter?
In Senegal starten wir demnächst auch. Ich möchte die Flagge von Sea2see nach Madagaskar, Mosambik und in die ganze Welt tragen, damit dieses soziale Umwelt-Projekt Mensch und Natur an der Basis hilft. Und es ist besonders schön in diesen Ländern zu arbeiten, wo es Wirkung zeigt. Denn ich komme eigentlich aus dem Journalismus. In meinem Leben vor Sea2see habe ich Dokumentarfilme über Entwicklungsländer in Afrika und dem Nahen Osten produziert, um ihr Image zu heben und ihnen zu helfen, wirtschaftlich auf die Beine zu kommen. Da ich als Belgier im Kongo aufgewachsen bin, habe ich den starken Wunsch, Afrika etwas zurück zu geben.
Können Sie die vertikal integrierte Nachhaltigkeit von Sea2see noch etwas näher erklären?
Sie wirkt direkt und positiv auf Länder, Menschen, Umwelt, die Optiker und die Konsumenten. Denn wer eine Sea2see-Brille trägt, ist stolz darauf und erzählt es weiter – ob analog oder in sozialen Medien. Du wirst Teil von etwas Größerem. Mit unseren Brillen haben Hunderttausende Menschen die Chance, etwas Gutes zu tun.
Sie haben angedeutet, dass Sie die Produktpalette erweitern wollen …
Wir verkaufen demnächst auch Uhren. Das Armband und das Gehäuse werden aus unserem Meeresplastik sein. Seit einem Jahr arbeiten wir daran mit einer Schweizer Manufaktur, also wieder beste Qualität zum bezahlbaren Preis. Die Prototypen unserer Uhren gibt es schon und wir wollen damit Ende Oktober auf den Markt. Unsere Uhren eignen sich hervorragend für den Onlineverkauf, weil die Anpassung entfällt.
Noch größere Zukunftspläne?
Aber klar! Mein nächstes Ziel ist unsere eigene Recyclingfabrik. Aktuell lassen wir den Müll noch von einem Drittanbieter recyceln. Mit einer eigenen Fabrik hätten wir das Potential, zurückgewonnenes Plastik in viele weitere Branchen zu verkaufen, wo es wiederverwendet werden kann, z.B. in die Automobilindustrie und Textilindustrie. Wir haben sogar schon eine eigene Covid19-Schutzmaske aus unserem Nylon hergestellt.
Wie reagiert der Markt auf Sea2see?
Deutschland ist einer unserer besten Märkte, weil die Konsumenten das Thema Nachhaltigkeit hier voll kapiert haben. Die Österreicher und Schweizer übrigens auch. Es sind hauptsächlich unabhängige Optiker, die Sea2see verkaufen. Wobei in einigen Ländern auch große Ketten auf uns zukamen, die Teil der Nachhaltigkeits-Story sein wollen. Um die Exklusivität für unsere Independent-Optiker zu gewährleisten, haben wir für die Ketten dann eigene Kollektionen designt. So sind auch sie im Boot, haben ihre Produkte, und jeder ist happy. Ich finde, das Nachhaltigkeit nicht exklusiv sein kann und darf – sie MUSS für jedermann zugänglich sein. Deshalb gibt es bei uns auch keinen Gebietsschutz. Wir verkaufen hier keine Brillen, sondern ein Statement. Sei Teil der Familie!
Inwiefern berührt Sea2see das Thema geändertes Konsumverhalten?
Meine Grundidee war, Menschen durch ein Produkt zu ermöglichen, Teil unserer Mission zu werden. Denn Verbraucher denken heute anders. Früher wollte man bestimmte Marken wegen ihres Status besitzen. Heutzutage verliert diese Status-Symbolik an Bedeutung. Alle Marken gehen jetzt in die Richtung, sich über Erlebnisse zu definieren. Man muss den Leuten heute „Experience“ (sprich Erlebnisse) bieten. Beispiel Tesla: Sie erlebten anfangs einen Run auf ihr Produkt, weil es cool ist, ein Elektroauto zu fahren. Der Name war zweitrangig.
Menschen wollen heute Teil einer größeren Geschichte sein.
Es reicht heute einfach nicht mehr, wenn irgendwo „Prada“ oder „BMW“ draufsteht. Leute wollen heutzutage Teil einer Geschichte sein, was sich auch in Marketing und Promotion niederschlägt. In dieser Hinsicht haben die sozialen Netzwerke unsere Gesellschaften revolutioniert. Jeder kann jetzt ein Foto von sich hochladen und schreiben: „Ich helfe bei der Rettung der Weltmeere mit!“ All diese Faktoren überzeugten mich, unseren Eyewear-Brand trotz aller Hindernisse zu gründen.
Und natürlich werden wir kopiert. Andere Hersteller kaufen jetzt Plastikgranulat auf und versuchen sich ein grüneres Image zu geben. Auch unter Textilherstellern ist es jetzt Mode, zu behaupten, dass man Meeresplastik verwendet. Der Unterschied zwischen ihnen und uns ist klar: Wir haben die Nachhaltigkeit in unserer DNA. Alle unsere Aktionen sind transparent und der Weg des Materials nachvollziehbar – vom Sammelcontainer bis zur fertigen Brille.
Jetzt verwenden immer mehr Brillenhersteller den Begriff „Bio-Plastik“. Was sagen Sie dazu?
Es gibt kein biologisch abbaubares Polymer, solange es nicht aus natürlicher Quelle stammt. Sogar Bio-Acetat wird nicht biologisch abgebaut. Es zerfällt lediglich etwas schneller, wird aber nicht in die Natur zurückabsorbiert, weil es kein Naturmaterial ist. Konsumenten wissen so etwas nicht.
Wie geht es mit Sea2see weiter?
Wir wollen unser soziales Engagement auf das nächste Level heben. Zur Verbesserung der augenoptischen Versorgung werden wir für jede verkaufte Sea2see-Brille eine Einstärken-Sehbrille in Afrika verschenken. Wir sind gerade dabei, die Logistik dafür zu entwickeln und einen Testlauf zu starten. Demnächst geht es los – mit 5000 Brillen und einem LKW als mobiler Sehtest-Station. Unsere sechs regionalen Botschafter in Ghana werden dabei helfen. Dann bringen wir zusätzlich zum Umweltschutz noch die Sehversorgung voran.
Wie hat Sea2see die Corona-Krise überstanden?
Mit der Corona-Krise ist es so: Einerseits hat sie uns betroffen in Form von Umsatz-Einbußen. Aber andererseits hat sie unsere Position klar gestärkt. Die Menschen reden jetzt dauernd über Covid19, die Umweltverschmutzung und die Natur. Darüber, wie gut es dem Planeten getan hat, dass das Leben stillstand. Und das ist ein super Argument für unsere Sea2see-Brille. Wie gesagt: Wir sind die einzigen, die eine vollständig vertikal integrierte Nachhaltigkeit praktizieren – von der Müllsammlung bis zum fertigen Produkt.
Das Interview führte Rosemarie Frühauf. Erschienen in OPTIC+VISION 5, 2020.