Er blickt optimistisch in die Zukunft, obwohl Italiens Eyewear-Industrie 2020 geschätzte 1 Milliarde Euro durch die Corona-Krise verliert: Giovanni Vitaloni ist Präsident des Branchenverbandes ANFAO und der Mailänder MIDO. Mit OPTIC+VISION sprach er über den Neustart des gesamten Sektors und positive Zukunftssignale für Italien und Europa.
OPTIC+VISION: Turbulente und dramatische Monate liegen hinter uns allen – und hinter Italien im Besonderen. Wie sehen Sie die Gesamtsituation?
Für die Industrie ist das Allerwichtigste, dass die Verbraucher in die Läden zurückkehren. Das ist der Wendepunkt – denn wenn die Nachfrage täglich wächst, beginnen auch der Vertrieb und die Produktion aufs Neue. Für uns als ANFAO ist es wichtig, die Tätigkeiten des Einzelhandels zu fördern, denn alles hängt von ihm ab.
Aktuell sehen wir bereits einige positive Signale. Der Juni war ein echter Neustart auf dem italienischen Markt – das können wir bereits ohne offizielle Zahlen sagen. Italiens Markt war als einer der ersten vom Lockdown und ist nun einer der ersten, die wieder geöffnet wurden. Die starke Nachfrage, die wir im Juni erlebt haben, zeigt den Nachhol-Bedarf der Verbraucher und wir hoffen sehr, dass diese Stimmung auch noch im Juli und August anhält und der Sommer besser läuft als üblich. Juni war bei uns ein überdurchschnittlich guter Monat, verglichen mit Vorjahren.
Italiens Eyewear Distrikt wird langfristig ein Krisen-Gewinner sein.
In Europa ist Frankreich unser führender Exportmarkt und auch in Frankreich haben wir solche Signale gesehen: Verkaufszahlen, die im Plusbereich zum Vorjahreszeitraum liegen.
Natürlich kämpfen wir weiterhin mit einer Krisensituation, weil wir immer noch ein düsteres Szenario in Großbritannien und den USA haben (unserem größtem Exportmarkt) wo die Geschäfte immer noch sehr schleppend laufen. Die europäische Entwicklung in Italien, Frankreich und auch in Spanien ist positiv. Bezüglich Deutschland haben wir noch keine verlässlichen Daten.
Gibt es ein Zurück oder werden wir in Zukunft eine neue Normalität erleben?
Auf jeden Fall! Aus unserer italienischen Perspektive formuliert: Ich denke ich, dass wir in Zukunft fester auf dem Boden der Tatsachen stehen werden, dass wir sehr konstruktiv denken müssen, sehr bodenständig und transparent. Werte wie Tradition und Ethik werden an Gewicht gewinnen und es wird nicht mehr wie früher sein. Ich denke, der Corona-Virus war wirklich ein enormer Change-Beschleuniger. Alles ist schon jetzt sehr anders und wird sich in Zukunft noch weiter verändern. Werte wie Ethik, Transparenz und Tradition und Kreativität werden ein wichtiger Mix sein. Und als italienische Unternehmen werden wir an diesen vier Säulen arbeiten.
Das leitet zu meiner nächsten Frage über. China ist ja ein wichtiger Produktionsstandort und wurde als erstes von Covid19 lahmgelegt. Ist demzufolge Regionalität ein wichtiger Faktor? Wie sieht die Zukunft für italienische Designer-Brillen Made in Italy aus?
Der Eyewear-Distrikt in Nord-Italien ist diesbezüglich ein Pluspunkt für unsere Industrie. Wir sind der größte Eyewear-Distrikt Europas und was Luxus-Produkte im Highend-Segment betrifft, der weltweit größte. Es wird auf jeden Fall eine verstärkte Rückverlagerung von Produktion in unseren Distrikt geben. Das Problem sind nun die Verluste der vergangenen drei Monate, die wir nicht mehr reinholen werden. Neue Aufträge und Projekte gingen verloren. Unter diesen Vorzeichen starten wir in ein neues Szenario: Es gibt Signale, dass Kunden aus den USA und Europa wirklich lokal Produziertes bevorzugen. Ein Neustart des Eyewear-Distrikts in Italien wird dadurch denkbar und greifbar – und aus diesem Grund sind wir sehr optimistisch. 2019 gab es bereits kleine Steigerungen bei der Anzahl der Beschäftigten und Anzahl der Betriebe im italienischen Eyewear-Distrikt.
Juni war bei uns ein überdurchschnittlich guter Monat.
Trotz des drei monatigen Lockdowns ist unsere Industrie sehr solide und gesund. Die Probleme, welche die Pandemie verursachte, waren die gleichen, wie bei Modeunternehmen weltweit – eben keine strukturelle Krise, sondern eine Virus-Krise.
Ich bin sehr optimistisch, das eine Menge größerer Kunden seine Bestellungen auf unser italienisches Eyewear-Distrikt fokussieren wird – wo auch die Produkte herkommen, die zu 100 Prozent „made in Italy“ sind. Diese Reaktion auf die C-Krise haben wir in den vergangenen Wochen erlebt, sie ist taufrisch.
Es gibt also einen Trend zur authentischen italienischen Eyewear?
Ja. Da einige unserer Großkonzerne sehr viel mit Asien zusammenarbeiten, was Komponenten oder Rohstoffe betrifft, war der Export bereits im Februar sehr negativ betroffen. Damals spürten wir bereits Produktionsprobleme in China. Und das hat dazu geführt, das viele Firmen unabhängiger werden möchten – auch durch lokale Produktion in Europa. Natürlich ist Italiens Eyewear-Distrikt die Region, in der eine Produktion zu 100 Prozent möglich ist. Wir können vom Rohstoff bis zum fertigen Produkt alles herstellen und sind somit komplett unabhängig.
Giorgio Armani hat angemahnt, dass die Modewelt entschleunigen muss. Speziell Luxusprodukte könnten und dürften nicht wie Fast Fashion hergestellt werden, meint er, damit sie ihre Wertigkeit behalten. Wird auch die Eyewear-Welt in Zukunft langsamer?
Was durch Covid19 in unserer Branche passiert ist, war ein Worstcase, denn es geschah in der business-technisch entscheidensten Woche, dem ungünstigsten Moment im Eyewear-Kalender: Nur fünf Werktage vor der MIDO gab es erste Todesfälle in Italien und wurde erstmals ein Notstand ausgerufen. Das war ein riesiger Schaden für die gesamte Branche. Jeder war drauf und dran, Aufträge einzusammeln und die Verkäufe ankurbeln, weil es zwischen März und April erfahrungsgemäß am besten läuft. Neue Kollektionen sollten auf der MIDO präsentiert werden und die Herbst-Kollektionen waren bereits in Arbeit. Die Frage ist nun, wie es dem gesamten Eyewear-System gelingt, wieder in den Rhythmus des Eyewear-Kalenders hinein zu finden.
Kollektionen sollten in Zukunft länger leben und nicht so schnell verheizt werden.
Und natürlich fühlen wir uns inspiriert, Produkte mit Mehrwert zu machen, die langlebiger sind. Wir reden hier von den Mittel- bis Highend-Produkten und Brands. Wir müssen Produkte von längerer Lebensdauer produzieren, allein weil der Level der Kreativität und der Entwicklungsarbeit, die wir investieren, sehr hoch ist. Dieses Investment sollte sich in längerer Lebensdauer amortisieren und der Markt sollte diese Kollektionen nicht so schnell verheizen. Brillen sollten in Zukunft länger leben dürfen.
Insofern stimmen wir Herrn Armani zu. Wir werden wohl bei zwei Kollektionen pro Jahr bleiben, und dazwischen die ein oder andere Capsule-Kollektion herausbringen. Aber wir werden weniger Einzelmodelle und dafür noch höhere Qualität anbieten. Es wird mehr um Klasse statt Masse gehen.
Sehen Sie diesen Trend?
Definitiv.
Verfolgen Unternehmen bereits diese Strategie?
In gewisser Hinsicht ja, denn Unternehmen, die ihre Kollektionen auf der MIDO nicht launchen konnten, planen für 2020 nun einen einzigen großen Launch im Juli, bei dem sie Produkte aus dem September vorziehen. Mit Zukunftsprognosen müssen wir allerdings vorsichtig sein, denn aktuell ändert sich alles täglich, wöchentlich oder zweiwöchentlich. Das einzige was hilft ist, gelassen zu bleiben und die Ereignisse zu analysieren. Falls es im Herbst eine Rückkehr des Virus gibt, können wir die wirtschaftlichen Auswirkungen nicht einschätzen.
Insgesamt sind Sie jedoch optimistisch?
Ja, denn nach zweiundhalb Monaten purer Negativ-Schlagzeilen und dem totalen Stopp jeglicher Handlungsfähigkeit sind wir einigermaßen in der normalen Welt zurück! Nun ist nur noch das Problem, dass sich die Welt für die verschiedenen Nationen in unterschiedlicher Geschwindigkeit weiterdreht, und die Lockdowns nach und nach geöffnet werden.
Eine Sache, die wir insgesamt beobachtet haben: Auf der Hitliste der Werte, die Verbraucher wichtig finden, rangiert persönliche Gesundheit ganz oben. Da Augengesundheit auch darunterfällt, ist das eine gute Aussicht für unsere Branche. Der Produktmix in den Läden geht auf ein höheres Qualitäts-Niveau: Auf dem italienischen Markt werden in den vergangenen Wochen mehr Gleitsichtbrillen verkauft. Die Menschen legen jetzt mehr Wert auf gutes Sehen – angeregt von der Erfahrung, dass sie zu Hause bleiben mussten und stundenlang auf den Laptop gestarrt haben.
Mein Fazit ist: Wir sind zurück in der normalen Realität. Alles ist etwas schwieriger. Zwischen den Einzelhändlern und der Industrie haben sich die Werte zum Traditionellen hin verschoben. Wir werden gesünder und bodenständiger wirtschaften. Ethik und Transparenz sind auf dem Vormarsch.
Das Interview führte Rosemarie Frühauf. Erschienen in OPTIC+VISION 4, 2020 Creative Edition.