In Eisenhüttenstadt teilen sich 30.000 Einwohner eine Augenärztin. Die Wartezeiten waren enorm lang, medizinische Unterversorgung an der Tagesordnung. Seit Oktober wird nun durch digitale Vernetzung Abhilfe geschaffen: Augenoptikermeister und Optometrist Peter Haubold Kretschmer gründete ein neues Augenzentrum für Screenings und Vorsorgeuntersuchungen. Mit der Software Harmony von Topcon fand er eine Lösung, um seine Standorte mit zwei Augenarzt-Praxen digital zu vernetzen – unabhängig von Geräten und Herstellern. Jetzt können er und die Mediziner schnell gemeinsam handeln, wenn sie einen Notfall entdecken. Das Modell aus dem östlichen Brandenburg hat eine Pilotrolle eingenommen und begeistert bereits weitere Optometristen und Ärzte. Dies zeigte auch der rege Austausch zu dem Thema auf der opti in München.
O+V: Wie kam es zur Gründung des neuen Augenzentrums?
Peter Haubold Kretschmer: Das Augenzentrum entstand, weil die Region stark unterversorgt ist. Es ist unsere Lösung, um den Bedarf nach Screenings zu decken und dabei die Patienten herauszufiltern, die dringend eine ärztliche Behandlung brauchen. Denn das Problem ist ja, dass viele ältere Menschen, die nur mal einen Augencheck machen lassen wollen, die Wartezimmer der Ärzte verstopfen. Und das so mancher, der dringend behandelt werden müsste, zu spät einen Termin bekommt. Hier in unserer Stadt ist der Altersdurchschnitt 52 Jahre, was heißt, dass es einfach sehr viele ältere Menschen gibt. Bei 90 Prozent aller Kunden, die unser Augenzentrum betreten, ist alles in Ordnung. Bei den übrigen 10 Prozent hatten wir vom retinalen Venenverschluss bis zur oxidativen AMD schon alle möglichen Auffälligkeiten.
Wie sind Sie auf die Software Harmony gekommen?
Wir haben recherchiert, welche Produkte es gibt, und uns relativ schnell für Harmony von Topcon entschieden. Ausschlaggebend war für uns, dass Harmony herstellerunabhängig Geräte vernetzt und riesige Datenmengen ortsunabhängig macht. Wenn ich als Optometrist verschiedene Screenings wie OCTs und Spaltlampenbilder anfertige, dann fallen erhebliche Datenmengen an. Meine Untersuchungsergebnisse und Verdachtsdiagnosen kann ich nun direkt an die Augenärzte weiterleiten – im Rahmen der telemedizinischen Vernetzung über Harmony zum Einholen eine Zweitmeinung. Das hat den Vorteil, dass sie sofort mit unseren Daten arbeiten können und eine nochmalige Untersuchung entfällt, sofern keine Feindiagnostik nötig ist. Im Fall einer Gesichtsfeldanalyse zum Beispiel spart das dem Patienten und dem Behandler enorm viel Zeit, zumal wir die gleichen oder ähnlich aussagekräftige Messgeräte verwenden. In Sachen Screening können wir Optometristen die Ärzte stark unterstützen – weshalb meine augenärztlichen Kollegen auch auf mich aufmerksam wurden. Wie groß der Bedarf nach Screenings in unserer Region ist, sieht man allein schon daran, dass in jedem meiner vier Augenoptikgeschäfte täglich ein bis zwei Screenings stattfinden.
Was für Dienstleistungen bieten Sie im Augenzentrum an?
Wir achten darauf, für die Menschen in unserer Region erschwinglich zu sein. Im Augenzentrum bieten wir einen kleinen Augencheck ab 30 Euro an. Für 110 Euro bekommt man das komplette Paket, wo OCT, Gesichtsfeldmessung und bei Auffälligkeiten auch eine OCT Angiographie dabei ist. Bei trockenem Auge bieten wir Tränenfilmanalyse an. Das heißt, wir arbeiten modular, je nach Bedarf. Unser Dienstleistungsspektrum ist mit den ärztlichen Kollegen so abgesprochen, dass alle Konstellationen Sinn machen. Spaltlampenuntersuchung und 90D-Lupe gehören immer dazu.
Heißt das, Sie könnten telemedizinisch mit Augenärzten in ganz Deutschland zusammenarbeiten?
Prinzipiell ja, aber wir arbeiten bewusst regional. Denn wenn ich z.B. Verdacht auf Katarakt feststelle, hilft es dem Patienten nicht, wenn ein Kölner oder Stuttgarter Arzt die Diagnose bestätigt. Ziel ist, dass den Betroffenen möglichst schnell geholfen wird. Unser Ansatz stellt deshalb nicht die Telemedizin in den Vordergrund, sondern das Verschicken der Daten und die Kooperation untereinander. Könnten wir alle Augenärzte und Optometristen im Umkreis von 70 Kilometern für unser Netz gewinnen, wäre das für die Versorgung des Landkreises optimal. Dann könnten wir Optometristen die Leute durchprüfen und nur die „echten Patienten“ würden bei ihren Augenärzten oder im Krankenhaus vorstellig.
Wie schätzen Sie die Zukunft der Optometrie ein?
In Deutschland haben wir noch einen längeren Weg vor uns. Die Berufsverbände müssen die Basis schaffen, damit die Augenärzte enger mit uns zusammenarbeiten können und damit wir in Zukunft mehr als nur Verdachtsdiagnosen äußern dürfen. In Norwegen zum Beispiel dürfen Optometristen mittlerweile diagnostische Medikamente verabreichen – was zwölf Jahre gedauert hat. Das zeigt das Optometrie in der Augenheilkunde hilfreich sein kann, in Gebieten, wo es notwendig ist.
Was neben dem politischen Aspekt ein ganz wichtiger Faktor ist: Optometrie kostet Zeit! Und das ist heute, wo vor allem Stückzahlen gejagt werden, sehr entscheidend. Mit optometrischen Dienstleistungen verdient man nicht so viel, wie an Brillen. Ich jedoch mache die Erfahrung, dass die Menschen sehr dankbar sind, darüber sprechen und uns weiterempfehlen, wenn wir Sehprobleme finden und lösen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir da sind und Zeit haben.
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Pionier am Puls der Zeit
Peter Haubold Kretschmer (39) ist Augenoptikermeister und Optometrist in Eisenhüttenstadt. Er ist seit 2009 selbständig und betreibt vier augenoptische Fachgeschäfte. Seit Oktober 2019 kam das Augenzentrum Eisenhüttenstadt dazu, wo er mit zwei augenärztlichen Praxen kooperiert. „Die Haltung der niedergelassenen Ärzte zur Optometrie hat sich in den vergangenen zehn Jahren sehr positiv geändert“, sagt Haubold Kretschmer. „Mit meinen augenärztlichen Kollegen arbeite ich auf Augenhöhe und jeder in seinem Fachgenbiet sehr gut zusammen. Es würde mich freuen, wenn mehr Kollegen unserem Beispiel folgen.“
Wie funktioniert Harmony?
Harmony von Topcon steht für digitales diagnostisches Datenmanagement und verbindet sich mit jedem Gerät, unabhängig von Gerätetyp und -marke, ob DICOM oder nicht. Durch browserbasierte Anwendungen ist von jedem Computer jederzeit der Zugriff auf alle Untersuchungsdaten möglich. Ein Worklist-Manager sorgt für das automatische Einspielen der Patientendaten am Instrument, was viel Zeit erspart. Auch große Datenmengen können schnell durchgesehen werden, dank einfachem Scrollen durch OCT-, Fundus- und andere Aufnahmen. Das gesamte Softwarepaket ist cloudbasiert und kann in einer sicheren Cloud, aber auch vor Ort gehostet werden, wobei alle Daten verschlüsselt gesichert werden (zertifizierter Speicher für medizinische Zwecke). Harmony ist als Telemedizin-Portal für akkreditierte Spezialisten jederzeit von überall zugänglich. Auch KI-Software kann mit Harmony verbunden werden und zur Früherkennung und genauer Diagnose beitragen.
Interview und Text von Rosemarie Frühauf
Erschienen in Optic+Vision 2_2020