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Der Megatrend „Individualisierung“ bringt zwei paradoxe Entwicklungen mit sich: Alles wird immer differenzierter individueller – gleichzeitig entsteht Verbindung zwischen Gleichgesinnten, die sich früher nie getroffen hätten. Wir antworten auf die Fragmentierung unseres Lebens mit Vernetzung. Über allem schwebt die Suche nach Sinn. Auch die Optik sollte auf „Lebensstil“ statt „Zielgruppe“ achten.

Ein gigantischer Zukunftsmarkt ist im Entstehen, von dem wir bereits Fragmente ahnen: Lebensstil wird zum Sinngeber und zum verbindenden Element zwischen Menschen. Ausgelöst wird diese Entwicklung vom Megatrend der Individualisierung, der die traditionellen Leitplanken des Lebens aufgelöst hat und jeden Einzelnen vor die Herausforderung stellt, etwas „aus sich selbst“ zu machen. „Sinn wird zunehmend zur Privatsache“, brachte es der Medienphilosoph Norbert Bolz auf den Punkt. Welche Lebensweise die passende ist, liegt im Ermessen jedes Einzelnen. Das ist einerseits eine Form von Freiheit – andererseits kann das auch ziemlich anstrengend sein, im Alltag wie in der Wirtschaft … aber mehr dazu später.

Weil nun jeder Einzelne auf der Suche nach dem Sinn ist, werden wir also in Zukunft konsumieren, was für uns „Sinn“ macht – und stiftet: Ein Großteil unserer Wertschöpfung wird nicht mehr von Versorgung, sondern Lebensqualität bestimmt werden. So entsteht ein „Sinnmarkt“, genauer gesagt, viele verschiedene Sinnmärkte. Denn wir möchten gerne Produkte und Dienstleistungen kaufen, die für uns ureigenen, ideellen Charakter haben, die uns Bedeutung, Tiefe und Wertigkeit versprechen.

Der Lebensstil wird dabei zum Anker der eigenen Identität – und zum unterscheidenden Merkmal, auf das hoher Wert gelegt wird. Durch den Trend der Individualisierung passen Menschen längst nicht mehr in nur eine Schublade: Sie wechseln mehrmals täglich ihren Lifestyle und ihre Verhaltensmuster, je nach Situation. Gab früher eine Subkultur und ihr Lebensstil den modischen Ton zeitweise an, so existieren heute viele Sinn-Modelle gleichzeitig und werden flexibel kombiniert. Für Marketing-Leute ist dies eine Herausforderung, denn die hergebrachten Kategorien wie Alter, Einkommen, Familienstand, Beruf und Wohnort geben nicht mehr genug Hinweise für das Entdecken neuer Kundschaft. Heutige Lebensstile definieren sich nämlich nicht mehr nach äußeren Zuschreibungen, sondern über Wünsche und Werte. Philipp Hofstätter vom „Zukunftsinstitut“ brachte dies in einem Interview wie folgt auf den Punkt: „Wir haben bei Tests mit unseren Kunden festgestellt, dass man sich in zwei oder sogar drei verschiedenen Stilen wiederfinden kann. Wobei die Stile durchaus auch sehr verschieden sein können.“

Individueller geht´s nicht

Personalisierung und „Customization“ sind die Zauberwörter der Individualisierung. Der Wunsch nach Unverwechselbarkeit wird auf verschiedene Arten gelebt und bedient: Da ist einerseits die Rückbesinnung auf das handgemachte Unikat, wie die getöpferte Tasse mit dem Charme des Selbstgemachten, der Boom von Hobbykünstler-Plattformen wie Etsy und Dawanda. Und andererseits wirft die große Industrie Daten und Hightech in die Schlacht, um den höchstmöglichen Grad der „Customization“ zu erreichen.

Ein Beispiel aus der Welt des Autos: Hier hat Opel mit seinem Stadtflitzer „Opel Adam“ bereits Maßstäbe gesetzt: Wegen enormer Auswahlmöglichkeiten beim Design geht die Chance, dass zwei gleiche Autos vom Band laufen, gegen null. Der Kunde kann sich sein Auto von oben bis unten nach Wunsch bestellen: Zwölf Lackfarben, drei Dachfarben, über vierzig Radvarianten und knapp zwanzig Innenraumdekore. Hinzu kommen noch Polster, Innenrückspiegel, Fußraumteppiche … Merke: Je größer eine Anschaffung, desto mehr Mitbestimmung wünscht sich der Konsument. (Vor diesem Hintergrund wirken die ersten Brillen mit farbigen Wechselbügeln wie ein bescheidener Gehversuch. Und auch bei Brillen mit Gesichtsscan aus dem 3D-Drucker ist bestimmt noch vieles möglich.)

Im alltäglichen Konsum lässt sich die Individualisierung anhand der Kaffee-Ketten wie Starbucks und Coffee Fellows beobachten: Bevor man die gesamte Auswahl durchlesen kann, soll man sich schon entscheiden zwischen drei Tassengrößen, fünf verschiedenen Kaffeesorten, zehn verschiedenen Sirups und mehr. Wie weit sich das Umsatzpotential der Individualisierung auf die Spitze treiben lässt, zeigt uns ebenfalls die Welt des Kaffees: Das Nespresso-System mit Tassen-Portionen verschiedenster Geschmacksrichtungen, einzeln in Aluminiumkapseln verpackt. Dieser Kaffee kostet pro Kilo zwar zwischen 70 und 90 Euro, aber wen stört es? Während beim klassischen Filterkaffee der Preiskrieg tobt, sind Kunden bereit, für das individuelle Geschmackserlebnis das Zehnfache zu zahlen. Warum? Das hochindividualisierte Produkt oder Erlebnis ist DAS neue Statussymbol. Der Konsument genießt das Gefühl gelebter Einzigartigkeit.

Deshalb brauchen wir Berater!

Wem bei den obigen Beispielen der Kopf schwirrt, der ist nicht allein: Die ständige „freie Auswahl“ überfordert uns in gewisser Weise. Und darin besteht das große Paradox der Individualisierung: Je größer die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen, desto nötiger die beratende Unterstützung durch andere – egal ob beim Lebensentwurf oder beim Shopping. Da verwundert es nicht, dass sich „Life Coaching“ seit einigen Jahren immer mehr zum Geschäftszweig entwickelt. Die neuen Lebensberater schreiben Bücher, halten Workshops oder geben Einzelcoachings für alle Bereiche, ob Karriere, Ernährung oder Gesundheit. Der Boom der Coachs und ihrer Ratgeberbücher offenbart zweierlei: Ein Bedürfnis nach Orientierung auf der einen Seite – und auf der anderen Seite die Sehnsucht nach dem objektiven Gegenüber zum fachlichen Austausch.

Dies wäre eigentlich eine Idee für den Optiker der Zukunft: Er könnte seine Kompetenz zeitgemäß als „Seh-Coach“ vermarkten, Menschen individuell beraten. Sinnhaftigkeit und Nutzen vermitteln. Seine Arbeit als Mission begreifen. Eigentlich all das, was gute Optiker schon seit Generationen getan haben …

Text von Rosemarie Frühauf.T